ÜBERALL WO ES UNS GEFÄLLT | HIKING SONGS

DOKUMENTARFILM | 64 min | D 2011DER FILM

Das Ensemble Unterwegs auf Reisen. Ein Film von Klaus Betzl .

Zwischen Abenteuer, Happening und sozialem Experiment10.01.12

von Prof. Dr. Hans J. Wulff

I.
Die Geschichte der Musik ist nicht allein eine Geschichte der musikalischen Formen, sondern auch eine Geschichte der wandernden Barden, der singenden Vagabunden und der fahrenden Sänger. An eine Umwelt gewöhnt, in der Musikalisches jederzeit verfügbar ist, muß man sich eine Realität, die ohne die technischen Medien der Reproduktion und Verbreitung lebte, mühsam vorstellen – als eine Wirklichkeit, in der Selbstgesungenes, sakrale Musiken bei den kirchlichen Veranstaltungen, vielleicht Militärkapellen, die zu Marsch und Tanz aufspielten, vielleicht regionale Tanzkapellen die musikalische Aufführung immer als etwas Besonderes aus dem Alltag herausstellten. Die musikalische performance schwamm wie eine Insel im vorbeiziehenden Alltag, sie war eine Enklave der Zeit, ein Moment der Anderswirklichkeit. Es waren Feste und es waren kirchliche und herrschaftliche Orte, an denen das Musikalische institutionalisiert, zum festen liturgischen Bestandteil des Geschehens und zu einem Element der sozialen Bedeutungen wurde. Aber da waren jene unberechenbaren anderen Momente, in denen Musik das Regiment der Zeit übernahm, für einen kurzen Einbruch der Alltagsroutinen zumindest.
Kann man das Wunder dieser überraschenden Unterbrechung des Vergehens der Alltagszeit heute noch hervorbringen? Ja, behauptet Klaus Betzls faszinierender kleiner Film, der von einer musikalischen, zwischen sozialem Experiment und experimenteller Selbsterfahrung der Musikerinnen changierenden Reise erzählt, wie man sie wohl nur im Sommer antreten kann. Vier Musikerinnen, alle Ende der Zwanzig, beschließen, zu Fuß durch die Bundesrepublik zu ziehen, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche, ausgerüstet mit Isomatten, Schlafsäcken und dem Nötigsten, was man auf der Walz braucht. Es gilt, sich mit der Musik der Vier Essen und Nachtlager zu verdienen. Die vier jungen Frauen haben keine Verträge, sie sind nicht auf Tournee, sondern auf einer Wanderung, deren Stationen nicht einmal genau festlagen. Sie gelangen in Orte, die sie nicht kennen, suchen Plätze, wo sie sich aufbauen können, oder sprechen einzelne an, in deren Gärten oder Häusern sie musizieren. Sie wollen kein Geld verdienen, bieten nur ihre Musik als Tauschobjekt an.
Von einer eigenen Kraft angetrieben, ziehen sie von Ort zu Ort. Die Wanderung selbst kulminiert in einer langen Einstellung aus dem Fenster eines Ausflugsschiffes, auf dem die Vier musizieren – ein Bild, das die Regensburger Uferpromenaden zeigt, die Autos, die auf der Straße im Hintergrund vorbeifahren, die Verkaufsstände in Ufernähe. Die Bewegung des Schiffes hat keinen fokalen Ankerpunkt, es folgt niemandem, sondern scheint sich schwerelos voranzubewegen. Eine Bewegung, die keinen Anlass hat (außer dem der Wanderung) und kein Ziel zu verfolgen scheint. Das Bild ist eines in einer ganzen Reihe anderer Bilder und Szenarien, die eine symbolische Strategie ganz in das Visuelle verlagert, die die Erzählung des Films trägt. Einmal haben die Musikerinnen Aufstellung am Wandrand genommen; vor ihnen fällt das Land sanft ab; gegenüber, auf der anderen Seite des Tals, sieht man eine gewaltige Klosteranlage; bis zu sechshundert Nonnen hätten dort gelebt, erklärt die Sängerin, die aus Bayern stammt und die Einzelheiten kennt. Nein, sie begeben sich in der Filmerzählung nicht in das Kloster hinein, sondern stimmen hier, in Ansicht des Klosters, ihr Lied an.
Das mag verwundern, weil das Motiv der Pilgerreise ein anderes Tiefenthema des Films ist. Es geht den Musikerinnen auch um das Heraustreten aus ihrem beruflichen und privaten Alltag und um eine Selbsterfahrung, die sie ohne die Wanderung nicht machen könnten. Eine der jungen Frauen spricht einmal von „Reinigung“, die sie erfahre. Es ist nicht allein die Erschöpfung des Körpers, die sie meint, und es ist auch nicht allein das Heraustreten aus dem eigenen Alltag oder die Auslieferung an die Unbilden von Natur und Wetter, sondern eine tiefere Konzentration auf die Musik und die so unvermittelte Begegnung mit Anderen, die zufällig in ihr Leben treten. Manchmal gerät d Begegnung mit den Gastgebern zu einem fast intim anmutenden Austausch über früher Erlebtes und Erlittenes, über Krankheiten und Beschädigungen – und die Angerührtheit der Erzählerin berührt ihrerseits.
Die Nähe der Reise zu den tieferen Motivationen des Pilgerns werden im Film sehr früh vorbereitet. Der Weg führt an Heiligenstatuen und Kreuzen vorbei, die im Münsterland so zahlreich die Wege über das Land säumen. Das Alter der Statuen und die Modernität der Bilder werden dabei mehrfach in Kontrast zueinander getrieben: Pkws und Lkws fahren vorbei, scheinen die Ruhe der steinernen Skulpturen zu stören; eine kleine Bildmontage zeigt eine Marienskulptur, deren Blick auf den Betrachter der Skulptur so gänzlich in eine unbeachtete Leere geht, dass man sich fragt, ob nicht die Kamera (und mit ihr die vier Musikerinnen) die Frage stellen, wem dieser steingewordne Blick eigentlich gilt.
Eines der Tiefenmotive des Films ist die Nähe zur Natur, die sich immer wieder einstellt, gewollt oder ungewollt. Es ist vor allem im ersten Teil des Films ein wiederkehrender Bildtypus, der im Vordergrund in größter Schärfe Halme, Dolden und Ähren zeigt; im in Unschärfe verschwimmenden Hintergrund erahnt man die Tiefe der Landschaft. Die Weite des Landes wird zum Geheimnis, zur Andeutung abgesenkt. Manchmal setzen die Bilder das so gewohnt werdende Szenario, bevor sich die Wanderinnen durch das Bild bewegen. Der so regelmäßig verwendete Bildtypus wird fast zu einem Symbol des Verfahrens, in dem die Frauen ihren Versuch durchführen – im Kleinsten ein Großes suchen, der Perfektion der musikalischen Stücke die Weite und Schönheit des Landes entgegenzustellen. Weil es auch um das Eintauchen in die sommerliche Natur geht, sind die Pausen, die das Quartett macht, so wichtig, Pausen, in denen geprobt wird, und Momente des Ausruhens, gar des Schlafs im wäldlichen Schatten. Hier gibt es kein Publikum, hier ist die Gruppe bei sich. Darum auch geben die anfänglich so vielen Aufnahmen der Schuhe einen verdeckten Hinweis auf die Mühseligkeit der Wanderung.
Die Lieder, die die Vier singen, handeln von Heimat und Liebe, erklärt eine einmal. Und sie suchten die Nähe zu den Mundarten und regionalen Traditionen der Landschaften, die sie durchwandern. Der Film zeigt, dass all dieses keine Naivität ist, sondern ein höchst artifizielles Projekt: Nicht nur, dass die Lieder in einer musikalischen Art vorgetragen werden, die allein auf Grund der klassischen kammermusikalischen Instrumentierung und des Kunstvortrags des Sopranistin ungewohnt ist und sich so gar nicht in die Vorstellung „volkstümlicher Musik“ fügen will, sondern auch, weil die Bilder die Wanderung der Frauen in Bildern zeigt, die deutlich der romantischen Darstellung der Natur verpflichtet sind. Es sind die Aus- und Durchblicke, die die Frauen in der Tiefe des Raums anordnen; manchmal sind sie durch Büsche und Bäume wie in einem Vignettenbild gerahmt, stehen noch im sommerlichen Schatten, während sich hinter ihnen die Weite der Felder und der Wälder am Horizont ergießen. Selbst diese visuelle Spur ist ironisch gebraucht; einmal sehen wir die Vier bei einer Probe vor einer kleinen Verweilhalle im Wald proben; eine Fahrradfahrerin ist wohl zufällig vorbeigekommen, stehengeblieben, sie lauscht, bricht wieder auf, schiebt das Fahrrad ein paar Meter, als wolle sie nicht stören, steigt wieder auf, verlässt das Bild.
II.
Anders als in der normalen Musik-Aufführung sind es nicht anonyme Andere, die den Liedern lauschen, sondern Besondere. Man merkt oft, dass nach dem Ende der Lieder der Applaus verhalten und schüchtern ist, als falle auf, dass ein Klatschen wie im Konzertsaal unangemessen ist. Kehrt die Musik hier zumindest manchmal zu einer nichtentfremdeten unitas von Kunst-Musizierenden und Zuhörenden zurück? Oder ist die unmittelbare Begegnung eines Quartetts mit einem oft kaum größeren Publikum eine Art von Happening, in dem die Begegnung von Musik mit den Zuhörern reflexiv gebrochen wird? Auch die Distanz, die bei den Straßenkonzerten zwischen den Vier und einem (nie gefilmten) Publikum der Passanten herrscht, ist vielleicht ein Indiz für die Unsicherheit der Begegnung zwischen Alltag und Kunst; wir sehen nur die wenigen, die an die Gruppe herantreten und ein Geldstück in den geöffneten Violinkoffer werfen.
Im zweiten Teil, der das Tempo zurücknimmt, kommt der Film auch auf die Mühseligkeit des Experiments zu sprechen. Es regnet, kaum jemand ist auf der Straße, ein Bauer weist die jungen Frauen ab. Es mag Neugier erregen, dass die Vier – zumindest der filmischen Erzählung folgend – die dörfliche Bevölkerung schneller gewinnen können als die alleinwohnenden Bauern; mag es daran liegen, dass die Themen der Gruppe – Natur, Liebe, Heimat, Mundart etc. – in den Dörfern von größerer Bedeutung sind als bei den Landwirtschaftern? Immerhin könnte man argumentieren, dass die Wohn-Inszenierungen der Gastgeber der Musikerinnen zwar vielleicht Regionalität noch im Ausnahmefall mit ihren Möbeln realisieren, dass die meisten aber den Vorbildern aus Katalogen entstammen, bis zum Extremfall einer modernistisch-kitschigen Wohnzimmerschrank-Skulptur, vor der die jungen Frauen Aufstellung nehmen; die Zuhörer sitzen ihnen gegenüber, sowohl das Quartett wie den Schrank betrachtend-bestaunend. Natur wird zum Sehnsuchtsgegenstand, möchte man das Argument verlängern, wenn sie in Distanz gerät oder gar verloren ist. Auch hier ist ein ernstes Augenzwinkern im Spiel, das den Blick auf den Film immer wieder in Tiefen aufreißt, die weit über den reinen Bericht hinausgeht.
Die Wiederherstellung des so unvermittelten Einbruchs in die Alltagswirklichkeit, von der eingangs die Rede war, ist nur ironisch wiederherzustellen – als ein im Grunde melancholischer Versuch, Kunst und Realität einander anzunähern. Wenn die Vier in einem Garten vor vier oder fünf älteren aufspielen, so drängt sich auch der Eindruck einer Unangemessenheit des Verhältnisses der technischen Perfektion des Vortrags und der Kleinheit des Publikums auf. Oft gehören die Zuhörenden einer Klientel an, die sicherlich nicht in kammermusikalische Konzerte gehen wird. Im zweiten Teil zeigt der Film ein Gespräch, in dem die Vier vier Männern (in einer bayerischen Gaststätte) gegenübersitzen und ein mühsames Gespräch zu führen versuchen („A wie Anna, B wie Barbara, CD wird noch gemacht, E wie Eva und F wie Friederike“ ordnen sie sich ihre Namen zu). Und einmal (im ersten Teil) kredenzt ein Hobby-Brenner ihnen wenige Schlucke eines selbstgemachten Obstbrandes, die Einzigartigkeit und den Wert des Getränks hervorhebend – her sind es die Musikerinnen, die nicht zu verstehen scheinen, dass es auch ihrem Gastgeber um einen eigentlich ästhetischen Wert geht, den es zu bewahren gilt und mit dem man sparsam umgehen sollte. Ironische Unangemessenheit kulminiert kurz vor Schluß des Films, als die Vier Aufstellung in eine winzigen Bagle-Shop in Regensburg nehmen; der Laden ist mit den Vieren vollständig gefüllt; während ihres Vortrags macht die Inhaberin Bagles fertig, die die Vier am Ende verzehren. Sie haben sich ein Essen erspielt; aber die Bedingungen der Aufführung unterlaufen den uns so vertrauten Kunstanspruch vollständig.
Der erste Teil des Films trägt die Anmutungen einer romantischen Reise, die die Kunst in die verborgendsten Winkel über das Land trägt. Getragen von einer reinen Naivität, euphorisch, die Kunst in Landschaft und Natur einschmiegend, ganz auf den höheren Zweck des Einswerdens von Leben, Handeln und Umgebung ausgerichtet. Im zweiten Teil nun tritt der sozialexperimentelle Charakter in den Vordergrund, kontrastiert dem ersten, entlarvt die Vorstellung einer alle Reserven des Alltags unterlaufenden Einheit von Kunst/Künstlern und Publikum. Die performances des Quartetts stellen die Zuwendung des Publikums nicht unvermittelt und ungebrochen her; und die Vorstellung, dass die Aufführung von Kunst quasi eigenmächtig eine eigene Insel des Kunstgenusses im Fluss des Alltags herstelle, erweist sich schnell als Schimäre. Es gehört zur experimentellen Logik des Projekts, dass sich das Zuhören nicht von alleine herstellt, sondern dass es Teil eines komplizierteren sozialen Kontraktes der Vier und der Anderen ist: Das Zuhören ist in vielen einzelnen Stationen der Reise auf eine sanfte und unmerkliche Weise gar kein freiwilliges Innehalten in den Vollzügen des Alltags, sondern selbst Teil eines Tauschgeschäftes. „Das Angebot ‚Kost & Logis‘ gegen Musik könnte man ja hier auch anders formulieren: Wenn ihr uns beherbergt, dann spielen und singen wir für euch! Eine reine, nicht fordernde Gastfreundschaft ohne `musikalische Bezahlunǵ, als wohlmeinende Reaktion auf den Anblick von vier erschöpften jungen Frauen, die ein Dach über dem Kopf suchen, erscheint fast als unmöglich… Es drängte sich doch hier und da der Endruck auf, das Musizieren sei notwendiger Bestandteil des “Deals” und müsse also absolviert werden“, schrieb mir ein Freund [*], und er verwies auf eine spürbare Peinlichkeit, die sich im Sitzarrangement der Zuhörenden und vor allem in den Beifallsbekundungen ausdrückt.
Willst Du den Apparat an Regeln, der die soziale Wirklichkeit konstituiert und kontrolliert, herausfinden, mußt du sie verletzen – erst in der Übertretung der Regel wird sie selbst greifbar, sagt eine der Richtungen der Alltagssoziologie. ÜBERALL, WO ES UNS GEFÄLLT geht einen raffinierten Weg, um am Ende den auch kritischen Impuls zu finden, der dem Projekt zugrundelag: Denn natürlich drängt sich die Frage auf, ob die Vorstellung der Unvermitteltheit von Kunstgenuss und Heraustreten aus den Routinen des Alltagslebens selbt ein Ideologem ist, Teil des Wegsperrens der Kunst in ein gesellschaftliche Reservat. Es ist die Frage, „inwieweit nicht jeder ‚klassische Kunstgenuss‘ auch in größerem sozialem Rahmen nur auf vermeintlicher Freiwilligkeit basiert, ist er doch meist institutionalisiert und in den entsprechenden Gesellschaftsschichten innerhalb des Freizeitmanagements eingebunden, als notwendige Dosis an ‚Hochkultur‘ sozusagen“ [*]. Das Publikum der Vier muss zwischen dem institutionalisierten Kunstmusikhören und einem aus dem Tausch Unterkunft-gegen-Musik entstehenden Tauschverhältnis. Keiner reagiert mit Desinteresse oder setzt sich zur Wehr, niemand gewährt aber auch Unterkunft, ohne die musikalische Gegenleistung anzunehmen. Niemand spricht dem Projekt der Vier seine Ehren- und Ernsthaftigkeit ab – doch ob es wirklicher Musikgenuss ist oder ein Hineintreten in eine institutionalisierte Rolle, die der über alle Klassen hinweg gefestigten Aura der Kunstmusik entspringt, das lässt der Film offen.
Vielleicht ist es die Anwesenheit der Kamera, die auch das Publikum diszipliniert, das mag man als Zuschauer nicht zu entscheiden. Sicherlich ist der Film mit Interviews durchsetzt, die en face in die Kamera hinein geführt werden. In den Szenen aber, die die Begegnung mit den Anderen zeigen, bleibt die Kamera versteckt; es sind manchmal winzige Blicke, die zeigen, dass die Anwesenden sich der Präsenz der Kamera bewusst sind. Nur ein einziges Mal – als es gelungen ist, an einem Hauseingang den Einlass zu gewinnen – wird die Kamera selbst adressiert: Die Sängerin wendet sich um, geht ein paar Schritte auf die Kamera zu, hebt den Daumen, als wolle sie signalisieren: Gelungen is‘s! Die so einzigartige Szene, während der wir die Frau im Hauseinagng nie zu Gesicht bekommen, ist für den Aufbau des Gesamtfilms wichtig, weil sie dokumentiert, dass das, wovon erzählt wird, öffentliches Geschehen ist, nicht allein auf dem Kontakt der Musikerinnen mit ihren Gastgebern beruht, sondern unter Beobachtung steht. Die Vier haben die Kamera dabei, die man sicher auch als Instrument der Kontrolle und als Insignum der Autorität der Medien oder auch nur als zusätzliche soziale Rolle bedenken muss. Die eigentlichen Versuchspersonen sind nicht die Musikerinnen, auch das wird im zweiten Teil des Films klar, sondern diejenigen, denen sie begegnen.
III.
HIKING SONGS (= „Wandernde Lieder“) ist der englische Titel des Films, der nicht allein über ein Sujet berichtet, sondern in seiner Bildgestaltung, Montage und Argumentation das Geschehen in tiefere Bezüge einrückt. Klaus Betzls Film berichtet über ein künstlerisches Projekt und ein soziales Experiment gleichzeitig. Er nutzt die Traditionen romantischer Bildnerei, reiht die Wanderung der vier Musikerinnen in eine viel ältere ikonographische und naturmythologische (deutsche) Tradition ein; er lokalisiert das Projekt vor dem Hintergrund der Pilgerreise und ihrem Horizont von Selbsterfahrung; er deutet mehrfach einen Diskurs über die Kommerzialisierung und Entfremdung der Beziehungen zwischen Musikern klassischer Ausbildung und ihrem Publikum an; und er illustriert den Einbruch von Kunstmusik in einen Alltag von Anderen, der so wenige Beziehungen zu dieser Art von Musik zu haben scheinen, dabei die Voraussetzungen des experimentellen Designs des Unternehmens selbst reflektierend. Der Film, der in drei von Thema und Rhythmus verschiedene Teile gegliedert zu sein schein (ein erster, schneller Teil, der ganz der Reise und den Auftritten der Vier gewidmet ist, ein zweiter, langsamerer, der die Mühseligkeiten der Reise und die Beziehungen der vier Musikerinnen zu ihren Publika akzentuiert, und ein dritter, der das Unternehmen in Regensburg zum Ende bringt), ist – bei aller Ernsthaftigkeit – immer in einer sympathiegetragenen Ironie vorgetragenen.
Der Film beginnt und endet mit einem kleinen Konzert in einer Barockkirche. Die Musik der Vier tritt hier in einen vertrauten Kontext ein, den sie für die Dauer einer sommerlichen Reise verlassen hatte. „Danke für‘s Mitsingen!“, beendet die Sängerin ihren Vortrag, selbst darin ironisch augenzwinkernd ausgreifend auf eine Form der Teilhabe von Publikum an Musik, die heute in Schlager- und Popmusik eher zu finden ist als in der Kunstmusik.
Anmerkung
[*] Brief von Ingo Lehmann v. 28.7.2012; ich habe den Film mit ihm zusammen gesehen und lange mit ihm darüber gesprochen. Welche Beobachtungen und Thesen des vorliegenden Artikels von ihm oder von mir stammen, mag ich oft nicht entscheiden. Im erwähnten Brief wirft Lehmann die Frage nach der Genrezugehörigkeit des Films auf – und plädiert für „musikalisches Road-Movie“, was mir einleuchtet, dem ich hier aber nicht weiter nachgehe.

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